Lehrerfolg - Der Lehr-Lern-Podcast

Folge 2: Attention please! - Die Bedeutung der Aufmerksamkeit

August 23, 2022 Sebastian Peters & Stefan Schmit Season 1 Episode 2
Lehrerfolg - Der Lehr-Lern-Podcast
Folge 2: Attention please! - Die Bedeutung der Aufmerksamkeit
Show Notes Transcript

In der zweiten Folge unseres Podcasts geht es um Aufmerksamkeit.  Wir klären für euch, wie sich dieser Begriff vom Begriff Konzentration unterscheidet und warum Multitasking ein Mythos ist.  Wir machen deutlich, dass Aufmerksamkeit nicht allein als Voraussetzung für schulisches Lernen verstanden werden kann. Aufmerksamkeit muss als Kompetenz betrachtet werden, die gezielt aufgebaut und gefördert wird.  

Stefan  00:00

Vor einigen Monaten erhielt unsere Ortsfeuerwehr von der Polizeidirektion Emsland/Grafschaft Bentheim die Anfrage, ob sie unser Feuerwehrhaus sowie den Platz davor für den Start ihres Verkehrsprojekts “Uns reicht’s” nutzen können, was natürlich kein Problem war. In dem genannten Projekt möchte die Polizei dabei auf die traurige Bilanz und den steigenden Trend von 34 Verkehrstoten bei 32 Verkehrsunfällen im Jahr 2021 im Bereich der Landkreise Emsland und Grafschaft Bentheim aufmerksam machen. Bei uns am Feuerwehrhaus führten sie dabei Aufklärungsgespräche mit Verkehrsteilnehmer:innen durch und hatten auch einen Überschlagsimulator aufgebaut, der die wirkenden Kräfte bei einem Verkehrsunfall erfahrbar macht. Der Titel des Projektes "Uns reicht's!" ist dabei abgeleitet von den Erfahrungen und den schlimmen Bildern, mit denen vor Ort Beteiligte belastet werden. Und als Feuerwehrmann kann ich nur sagen, dass Verkehrsunfallseinsätze mit Schwerverletzten und Toten zu den unerträglichsten Momenten des Feuerwehrdienstes gehören - und das gilt natürlich gleichermaßen für Kräfte von Polizei und Rettungsdienst, aber sicherlich in besonderem Maße auch für die Verkehrsteilnehmer:innen, die als Ersthelfer:innen, an solche Unfallstellen kommen. Von daher scheint mir die Wahl des Projekttitels “Uns reicht’s” durchaus passend. Zu der Zeit, als wir die Anfrage der Polizeidirektion erhielten, las ich gerade Gerd Gigerenzers Buch “Klick - wie wir in einer digitalen Welt die Kontrolle behalten und die richtigen Entscheidungen treffen”. In seinem Buch berichtet Gigerenzer davon, dass in Deutschland im Schnitt jeden Tag ein Mensch durch Ablenkung von Fahrer:innen im Straßenverkehr getötet wird - eine Größendimension, die mir bislang gar nicht so bewusst war. Oftmals sind sie die Fahrer:innen dabei durch ihr Handy bzw. ihr Smartphone abgelenkt. Gigerenzer schreibt: "In der Regel sterben die Opfer abgelenkten Fahrens vollkommen sinnlos. Denn die ablenkenden Nachrichten sind meist absolut trivial." Gigerenzer verweist darauf, dass Autofahrer:innen sehr wohl um die Gefahr z. B. des Lesens oder auch des Schreibens von Nachrichten beim Autofahren wissen, jedoch nicht genügend Selbstbeherrschung besitzen, es auch zu unterlassen. Sie schaffen es also - trotz besserem Wissens - nicht, sich ausreichend auf die Aufgabe des Fahrens zu konzentrieren, sondern schenken ihrem Handy bzw. ihrem Smartphone die Aufmerksamkeit, was im schlimmsten Fall tödlich enden kann.

Sebastian  02:11

Als nicht ganz so dramatisch erscheint es da, wenn man z. B. in Lernsituationen in der Schule immer wieder mal dem Handy oder Smartphone statt Themen des Unterrichts seine Aufmerksamkeit widmet und dort Nachrichten liest oder schreibt. Aber inwieweit ist das wirklich so? Oder kann man sich vielleicht durch den ständigen Blick aufs Handy oder Smartphone in gewisser Weise auch seine eigene Zukunft verbauen, sodass wir es auch hier mit existentiellen Auswirkungen zu tun haben? Wir schauen hier heute etwas genauer hin, wenn wir uns in dieser Podcast-Folge mit dem Thema “Aufmerksamkeit” beschäftigen - also: Attention please!

Intro  02:48

Stefan  03:03

Wir bleiben vielleicht erst einmal noch einen Augenblick bei den abgelenkten Autofahrer:innen und überlegen uns hiervon ausgehend weitere Situationen, in denen wir es für gleichermaßen notwendig halten, dass Menschen nicht abgelenkt werden bzw. sich nicht ablenken lassen, sondern die jeweils anstehenden Aufgaben mit der erforderlichen Aufmerksamkeit erledigen. Ich denke hier beispielsweise an Ärzt:innen - nicht nur während einer Operation, an Taxi-, Straßenbahn-, Zug- und Busfahrer:innen, die andere Menschen durch Stadt und Land befördern, an Pilot:innen, an Elektriker:innen, die zum Beispiel eine Hausinstallation erstellen, an Tischler:innnen, während sie an der Kreissäge arbeiten, an Eltern sowie Erzieher:innen und Lehrer:innen, die junge Menschen beaufsichtigen und an viele mehr.

Sebastian  03:46

Und gerade in Hinblick auf Dein letztes Beispiel gibt es eine ganz interessante Studie. Im Jahr 2008 nahm das Telekommunikationsunternehmen AT&T sein 3G-Netz in den USA schrittweise in Betrieb; gleichzeitig legte Apple zu diesem Zeitpunkt mit dem iPhone 3G ein Handy vor, das dieses schnellere Netz nutzen konnte und das man mehr oder weniger als Prototyp unseres modernen Smartphones ansehen kann. Craig Palsson nutzte diese historische Rahmenbedingung für einen Vergleich der Zahl der in der Notaufnahme behandelten Kinder im Alter von 0 bis 10 Jahren vor und nach der 3G-Netz-Einführung. Dabei stellte er eine bemerkbar höhere Behandlungszahl von Kindern zwischen 0 und 5 Jahren nach der 3G-Netzumstellung fest, während er für Kinder von 6 bis 10 Jahren keinen Unterschied in der Behandlungszahl ausmachen konnte. Zugleich arbeitete er heraus, dass die höhere Behandlungszahl bei Kindern zwischen 0 und 5 Jahren mit Unfällen von Kindern zusammenhängt, die oftmals durch eine bessere Beaufsichtigung hätte verhindert werden können. Eine Erklärung über demographische Effekte konnte er ausschließen; vielmehr geht er sogar von einer Unterschätzung des Effektes aus. Über den von ihm vermuteten Wirkzusammenhang schreibt er: "Der wesentliche Mechanismus, mit dem wir erklären können, dass die Smartphonenutzung zu mehr Verletzungen führt, ist die Ablenkung der Betreuungspersonen von ihrer Aufgabe, die Kinder zu beaufsichtigen. Sicher: Ablenkungen gab es schon immer - sei es beim Lesen eines Buches, beim Chatten mit einer Freund:in oder beim Telefonieren - aber Smartphones bieten Zugang zu einer größeren Vielfalt an Ablenkungen und erhöhen deren Häufigkeit. Smartphone-Besitzer:innen können im Internet surfen, die sozialen Netzwerke nutzen und Videos abspielen. Bevor es Smartphones gab, gab es für Eltern und Erziehungsberechtigte nur selten derartige Möglichkeiten der Ablenkung: So können Textnachrichten und Telefonanrufe nur dann eine ablenkende Wirkung haben, wenn die direkte Kommunikation mit einer zweiten Person gegeben ist, aber Smartphones können immer auf das Internet zugreifen, unabhängig vom Agieren einer weiteren Person. Darüber hinaus sind viele Smartphone-Inhalte gerade so gestaltet, dass sie die Aufmerksamkeit der Nutzer:innen längerfristig binden. Dies war bei früheren Kommunikationsmöglichkeiten in dieser Weise nicht möglich. Die Entwickler:innen von Apps optimieren diese vielfach so, dass sie die Nutzer:innen dauerhaft beschäftigen, und zum Teil werden beim Schließen einer App Meldungen ausgegeben, um die Nutzer:innen dann wieder zurückzuholen."

Stefan  06:27

Ob nun Eltern, die ihre Kinder beaufsichtigen, Arzt:innen im Operationssaal oder Pilot:innen im Cockpit: Auch in Zukunft erscheint es in vielfältigen Situationen unabdingbar zu sein, dass Menschen dazu in der Lage sind, ihre Aufmerksamkeit für einen längeren Zeitraum einer Sache - ohne Ablenkung - widmen zu können. Schule könnte und sollte dabei der Ort sein, an dem die nachwachsende Generation diese Fähigkeit erwirbt. Mit den Autor:innen der COACTIV-Studie gehen wir dabei davon aus, dass Schule den Erwerb dieser Fähigkeit nicht zusätzlich anlegen muss, sondern dass dies in erster Linie über das Bildungsprogramm selbst erfolgt. Dies kann beispielsweise geschehen, wenn im Deutschunterricht Szenen einer Lektüre präzise unter verschiedenen Gesichtspunkten analysiert werden, wenn im Biologieunterricht mikroskopiert wird und dann Skizzen zu erstellen sind, wenn im Lateinunterricht Übersetzungen angefertigt werden usw. - also immer dann, wenn eine intensive und vertiefte Auseinandersetzung mit Bildungsinhalten stattfindet, die in besonderer Weise die dauerhafte Aufmerksamkeit der Schüler:innen einfordert, was in der Schule ja eher die Regel als die Ausnahme ist.

Sebastian  07:29

Aber was ist das eigentlich - Aufmerksamkeit? Und inwiefern ist sie - gerade auch fürs Lernen - bedeutsam? Im “Dorsch - Lexikon der Psychologie” heißt es dazu:
"Aufmerksamkeit im kognitionspsychologischen Kontext (Kognitionspsychologie) bezieht sich auf die Fähigkeit, Informationen zu selektieren und andere zu ignorieren, um diese zur Grundlage von Wahrnehmung, Denken und Handlungen zu machen. "

Und Jochen Müsseler schreibt im “Lexikon der Psychologie” zum Begriff der “Aufmerksamkeit”:
"Der wichtigste Aspekt der Aufmerksamkeit umschreibt unsere Fähigkeit, aus dem vielfältigen Reizangebot der Umwelt einzelne Reize oder Reizaspekte auszuwählen und bevorzugt zu betrachten, andere dagegen zu übergehen und zu unterdrücken. Würden vom Organismus alle Reize mit der gleichen Priorität verarbeitet, wäre aufgrund eines sensorischen Reizüberangebots ein geordnetes Handeln unmöglich. "

Stefan  08:26

Der Begriff “Konzentration” wird nicht nur alltagssprachlich dem Begriff “Aufmerksamkeit” oftmals gleichgesetzt. Aus psychologischer Sicht gibt es jedoch Versuche, diese beiden Begriffe zu unterscheiden, wenngleich hierbei bis heute kein eindeutiger Konsens festzustellen ist. Gleichwohl gibt es die Tendenz, den Begriff der Aufmerksamkeit eher auf den Aspekt der Wahrnehmung zu beziehen, wo hingegen Konzentration mit “Handeln” zusammengebracht wird. Wir lesen noch einmal im “Dorsch - Lexikon der Psychologie”:
"Konzentration ist die Fähigkeit, Handlungen absichtsvoll zu steuern und ihre Ausführung zu kontrollieren (Handlungskontrolle). Im Alltag ist ein Mensch dann konzentriert, wenn er absichtsvoll das – und nur das – tut, was er sich zu tun vorgenommen hat. Menschen können nur begrenzt Informationen bewusst verarbeiten (Informationsverarbeitung). Daher muss man sich konzentrieren, d. h., man kann nur wenige relevante Informationen (…) verarbeiten. "

Sebastian  09:15

Und der hier angeführte Befund, dass Menschen nur wenige relevante Informationen verarbeiten können, führt fast zwangsläufig zu der Frage nach der Möglichkeit von Multitasking, womit gemeint ist, dass man mit einer mehr oder weniger großen Vielzahl an Informationen, die oftmals aus unterschiedlichsten “Bereichen” stammen, gleichzeitig umgehen kann.

Und jetzt könnten wir hier natürlich irgendwelche Klischees zum Thema Multitasking zum Besten geben. Das machen wir nicht, sondern wir werfen mit Stefan Van der Stigchel einen recht nüchternen Blick auf das Thema. Er macht nämlich deutlich, dass Menschen in Situationen, in denen sie scheinbar gleichzeitig mehreren Aufgaben nachgehen, dies tatsächlich gar nicht tun, sondern stattdessen kontinuierlich zwischen den verschiedenen Aufgaben wechseln. Er schreibt hierzu:
"Wenn Sie glauben, dass Sie problemlos mehrere Dinge gleichzeitig tun können, sind Sie höchstwahrscheinlich Opfer der Multitasking-Illusion. Was tatsächlich passiert, ist, dass Sie so schnell zwischen zwei Aufgaben wechseln, dass es so aussieht, als würden Sie sie gleichzeitig erledigen.

Stefan  10:16

Und dieser Wechsel, dieser switch zwischen den verschiedenen Aufgaben, die man scheinbar zur gleichen Zeit bearbeitet, ist dabei stets mit switch costs verbunden. Van der Stigchel hierzu:
"Sie werden länger brauchen, um jede einzelne Aufgabe zu erledigen (…), und Sie werden mehr Fehler machen als in dem Fall, dass Ihre Aufmerksamkeit auf eine einzelne Aufgabe allein gerichtet ist."
Hinsichtlich dieser switch costs gibt es dabei durchaus interindividuelle Unterschiede, jedoch konnten in Studien keine Unterschiede zwischen Frauen und Männern festgestellt werden. Daneben ist es wohl auch so, dass von außen verursachte Wechsel zwischen Aufgaben mit höheren switch costs verbunden sind als solche, die von einem selbst herbeigeführt werden, also beabsichtigt sind. Wenn ich hier zum Beispiel an meine Tätigkeit in der Freiwilligen Feuerwehr denke, dann ist es ja so, dass wir fast immer alarmiert werden, wenn wir uns gerade mit ganz anderen Dingen beschäftigen. Und dann lassen wir natürlich diese Arbeit liegen, fahren zum Feuerwehrhaus und von dort zur Einsatzstelle. Und es dauert dann auch immer einen Augenblick, bis man in der Aufgabe “Abarbeiten des Einsatzgeschehens” angekommen ist. Ein typisches Beispiel für switch costs. Aber ich denke jedem selbst fallen auch aus dem Alltag Situationen ein, in denen man plötzlich mit etwas ganz anderem konfrontiert wird und es dann einen Augenblick dauert, bis man das dann vernünftig “auf dem Schirm” hat. Und in solchen Momenten merkt man dann selbst, dass man nicht verlustfrei und quasi instantan von einer zur anderen Aufgabe wechseln kann.

Sebastian  11:38

In beruflichen Kontexten - und natürlich auch im privaten Rahmen - nehmen wir diese switch costs an bestimmten Stellen durchaus hin, auch wenn sie natürlich zu Lasten der Arbeitseffizienz gehen. Ich denke hier beispielsweise an Menschen, die in Unternehmen im Empfang arbeiten: Sind z. B. gerade keine Kundinnen oder Kunden vor Ort, dann sind sie mit einer anderen Aufgabe beschäftigt; sobald aber eine Kundin oder ein Kunde das Geschäft betritt, wenden sie sich von dieser Tätigkeit der Kundin/dem Kunden zu - und hier treten dann erstmals switch costs auf. Und wenn sie sich dann anschließend wieder mit ihrer anfänglichen Tätigkeit beschäftigen, haben wir es erneut mit switch costs zu tun. So wird man sich, wenn man sich der anfänglichen Aufgabe wieder zugewendet hat, beispielsweise fragen: Was habe ich gerade gemacht? Wo war ich stehengeblieben? Was wollte ich als Nächstes tun? Und so kommt man dann allmählich nach einer Unterbrechung wieder in diese Aufgabe, in diese Tätigkeit hinein. Und dann gibt es eben auch berufliche Kontexte, in denen switch costs möglichst vermieden werden sollen. Nehmen wir als Beispiel erneut eine Ärztin oder einen Arzt im Operationssaal. Ablenkungen und die damit verbundenen switch costs könnten sich mit Blick auf die durchzuführende Operation durchaus negativ auswirken. Man denke hier an die Ärztin oder den Arzt, die oder der sich nach einer kurzen Unterbrechung wieder der ursprünglichen Aufgabe - also dem Operieren - zuwendet und dann zum Beispiel erstmal überlegen muss: Was wollte ich eigentlich operieren? Personen, die häufig zwischen verschiedenen Aufgaben wechseln, nehmen im Übrigen ihre Arbeit als belastender wahr und zeigen ein hohes Stress-Level, was über die Ausschüttung von Stresshormonen wie Cortisol und Adrenalin bei Aufgabenwechseln erklärt wird.
"Das längerfristige Vorhandensein von Stresshormonen im Körper führt oft zu einer lähmenden Müdigkeit. Wundern Sie sich also nicht, wenn Sie sich nach einem Tag des Unterbrechens und erneuten Beginnens und wieder Unterbrechens von Aufgaben völlig erschöpft fühlen."
Es gibt also durchaus gute Gründe dafür, Aufgabenwechsel soweit es geht, zu reduzieren.

Stefan  13:37

Schauen wir uns nun den Zusammenhang zwischen switch costs und Multimedia-Nutzung noch etwas genauer an. Dabei lässt sich ein bedeutsamer Unterschied hinsichtlich der auftretenden switch costs zwischen Menschen, die kaum multimediale Möglichkeiten nutzen, und Menschen, die multimediale Möglichkeiten exzessiv nutzen bzw. diese zum Teil auch gleichzeitig einsetzen, zum Beispiel wenn sie eine Serie bei Netflix streamen und zugleich bei Twitter aktiv sind, erkennen. Es ist nämlich so, dass bei Letzteren deutlich höhere switch costs auftreten, auch wenn man dabei persönlich den Eindruck hat, dass man hier spielend verschiedene multimediale Kanäle zugleich bedienen kann. Van der Stigchel stellt hierzu heraus:
"Der Grad der Multimedianutzung ist einer der Faktoren, mit denen sich voraussagen lässt, wie gut das Gehirn dazu in der Lage ist, zwischen verschiedenen Aufgaben zu wechseln."
Und diesen Satz lassen wir uns jetzt noch einmal auf der Zunge zergehen: Ein Prädiktor, also ein Vorhersagewert, für die Fähigkeit, möglichst reibungslos zwischen verschiedenen Aufgaben wechseln zu können ist der individuelle Multimedia-Nutzungsgrad. Und je höher dieser ist, also je vielfältiger meine Multimedia-Nutzung ist, desto größer sind meine switch costs bei Aufgabenwechseln. Eine Optimierung des Vorgangs des Wechsels von Tätigkeiten im Sinne einer Reduktion von switch costs durch einen häufigen Wechsel zwischen verschiedenen Tätigkeiten gibt es wohl nicht. Daneben wird in Studien deutlich, dass Menschen mit einem hohen Multimedia-Nutzungsgrad sich zugleich leicht ablenken lassen. Van der Stigchel markiert mit Blick auf diese Befunde zugleich:
"Es gibt keine Hinweise darauf, dass sich eine verstärkte Multimedianutzung dauerhaft negativ auf Menschen auswirkt, aber wir wissen, dass die Zunahme von Möglichkeiten zum Multitasking für Menschen mit einem weniger leistungsfähigen Gehirn eine große Herausforderung darstellen kann."
Und wenn wir für den schulischen Kontext jetzt “weniger leistungsfähiges Gehirn” einmal freundlich mit dem Ausdruck “lernschwache Schülerinnen und Schüler” in Verbindung bringen, dann wird deutlich, dass gerade diese von Lernumgebungen in besonderer Weise profitieren, die nicht die Möglichkeit zum Multitasking, also zur Ablenkung durch WhatsApp-Nachrichten-Lesen bzw. -Schreiben, Tik-Tok-Videos-Schauen, Minecraft-Spielen usw. bieten. Hierzu noch einmal Van der Stigchel:
"Die Reize, die ständig auf sie einprasseln, wie die Benachrichtigungen, die Sie auf Ihrem Smartphone erhalten, oder auch die bloße Anwesenheit Ihres Tablets neben Ihnen, werden Ihre Aufmerksamkeit beanspruchen und Sie von dem ablenken, was Sie gerade tun."
Und auch aus diesem Zitat möchte ich einen Punkt besonders hervorheben, und zwar den, dass die reine Präsenz eines Tablets oder Smartphones angesichts der damit vorhandenen Möglichkeiten ausreichen kann, um Aufmerksamkeit zu binden und von der eigentlichen Aufgabe abzulenken. Und das gilt nicht nur dann, wenn man sich diesen digitalen Endgeräten zuwendet - die alleinige Anwesenheit - das unterstreiche ich nochmal - macht wohl schon einen bedeutsamen Unterschied. Von daher ist es durchaus empfehlenswert, digitale Endgeräte in bestimmten Situationen nicht in Sicht- und Griffweite zu lagern. Hierzu Van der Stigchel:
"Konzentriertes Arbeiten ist unglaublich nützlich, aber die Konzentration kann leicht durch andere Reize, die um Ihre Aufmerksamkeit kämpfen, gestört werden (...). In Situationen, die eine intensive und konzentrierte Arbeit erfordern, ist es daher am günstigsten, das Arbeitsumfeld/den Arbeitsplatz so einzurichten, dass Störungen und Ablenkungen auf ein Minimum beschränkt bleiben."
Und das gilt insbesondere auch für die Einrichtung des Arbeitsplatzes daheim. Van der Stigchel berichtet, dass aus Beobachtungsstudien bekannt ist, dass Schüler:innen und Student:innen sich daheim nur über kurze Zeitspannen konzentriert mit einer Aufgabe auseinandersetzen.
"Selbst dann, wenn den Lernenden gesagt wurde, dass sie einen sehr wichtigen Inhalt lernen müssen, konnten sie sich nicht länger als drei bis fünf Minuten auf diese Aufgabe konzentrieren. Es überrascht nicht, dass soziale Medien und Chat-Nachrichten hierbei als die wichtigsten Ablenkungsfaktoren identifiziert wurden."
Also: Auch daheim - und hier sind dann in besonderer Weise die Eltern und Erziehungsberechtigen gefragt - sollten digitale Endgeräte beim konzentrierten Arbeiten nicht in Reichweite liegen und andere Ablenkungen ebenfalls möglichst minimiert sein.

Sebastian  17:39

Und wenn es mal nicht möglich ist, die digitalen Endgeräte in ausreichender Entfernung aufzubewahren, wäre es günstig, über so etwas wie “Strategien des Ignorierens” zu verfügen, die aber in besonderer Weise auch von der vorhandenen Selbstbeherrschung abhängig sein dürften. Angesichts des Umstandes, dass ein dauerhaftes Aufbringen der erforderlichen Selbstbeherrschung aber durchaus als kritisch angesehen werden kann (vgl. Baumeister & Tiernier), kann es in Situationen, in denen man beispielsweise konzentriert am PC arbeiten und nicht der Versuchung, im Netz zu surfen oder E-Mails zu prüfen, erliegen möchte, hilfreich sein, Apps zu nutzen, mit denen man für sich den kompletten Internetzugang bzw. auch bestimmte Apps für einen definierten Zeitraum sperren kann. Und auch das komplette Sperren von digitalen Endgeräten im Unterricht durch Lehrer:innen bzw. das Sperren des Internetzugangs oder bestimmter Apps kann als externe Maßnahme angesehen werden, die dazu verhelfen soll, dass ein konzentriertes Arbeiten und damit verbunden auch ein Lernen möglich wird, weil die Schüler:innen nicht zum Beispiel WhatsApp-Nachrichten lesen bzw. schreiben, Tik-Tok-Videos schauen, Minecraft spielen usw. Im Sinne des Herausbildens eines kompetenten Umgangs mit den Herausforderungen einer durch Digitalisierung geprägten Welt erscheint es aber auch günstig, wenn hier nicht die Lehrer:innen dauerhaft die entsprechenden Sperren einrichten, sondern die Schüler:innen unter Nutzung entsprechender Apps dies selbst tun. Warum dies überhaupt wichtig ist, stellt Van der Stighel heraus:
"Es gibt (...) eine deutliche Korrelation zwischen der Nutzung sozialer Medien während des Lernens und den schulischen Leistungen: je stärker die Nutzung dieser Medien ist, desto schlechter sind die Leistungen."
Und etwas allgemeiner stellt er fest:
"Um lernen zu können, müssen Sie Ihre Aufmerksamkeit voll und ganz auf das konzentrieren, was Sie lernen wollen. Wenn Sie hingegen mehrere Aufgaben gleichzeitig erledigen, beeinträchtigt das Ihre Lernfähigkeit."
In Hinblick auf die Ermöglichung von Lernen im Unterricht ist es daher wesentlich, wenn es selten zu Momenten kommt, die einen Aufgabenwechsel, also ein task switching erforderlich machen, womit zugleich die time on task, also die Lernzeit, erhöht wird. Nach Helmke stellt die Lernzeit eine Schlüsselvariable zur Erklärung von Lernerfolg dar, allerdings ist sie von außen auch schwer zu erfassen, weil auf der einen Seite ein mentaler Leerlauf bei interessiertem Eindruck ebenso möglich ist wie mentale Aktivität bei scheinbarer Abgelenktheit. Nun können die Gründe, die zu einem task switching im Unterricht führen, vielfältig sein und gerade externe Störungen sind ja nie auszuschließen. Um so wichtiger ist es aber dann, nach einer solchen unterrichtlichen Situation wieder zur eigentlichen Aufgabe zurückzukommen. Und hier hilft es vielleicht, sich die eben im Beispiel erwähnte Person in Erinnerung zu rufen, die am Empfang arbeitet. “Was habe ich gerade gemacht? Wo war ich stehengeblieben? Was will ich als Nächstes tun?”, waren ja gerade die Fragen, die wir beispielhaft aufgeführt haben und die sich diese Person stellen könnte, wenn sie sich nach der Auseinandersetzung mit einer Kundin oder einem Kunden wieder der vorherigen Arbeit am Schreibtisch widmet. Und in ähnlicher Weise könnten nach einem task switching im Unterricht die folgenden Fragen zur ursprünglichen Auseinandersetzung zurückführen: Was haben wir gerade gemacht? Wo waren wir stehengeblieben? Was wollen wir als Nächstes tun?

Stefan 21:02

Zum ganzen Bild gehört natürlich auch der Befund, dass sich jüngere Schüler:innen durchaus weniger lang mit der notwendigen Konzentration mit einer Aufgabe beschäftigen können als ältere Schüler:innen. Es käme ja - hoffentlich - keiner auf die Idee, nach der Grundschule Abschlussprüfungen im Sinne des Abiturs einzuführen, an denen die Kleinen um die sechs Unterrichtsstunden sitzen. Jungen Erwachsenen können wir das aber zumuten und dieses Beispiel macht dann auch in gewisser Weise deutlich, dass der Aufbau der Fähigkeit, länger konzentriert eine Aufgabe bearbeiten zu können, durchaus - wenn auch eher implizit - im Bildungssystem angelegt ist, wenngleich in Abiturprüfungen natürlich nicht vollständig durchgearbeitet wird und zum Beispiel eigenständig Pausen zum Essen eingelegt werden.

Sebastian  21:42

In diesem Zusammenhang erscheinen uns für das Verständnis der Zusammenhänge nochmal einige Unterscheidungen hilfreich: Und zwar lässt sich zwischen willkürlicher und unwillkürlicher Aufmerksamkeit unterscheiden, wobei willkürlich hier in der Bedeutung “vom eigenen Willen gesteuert” verwendet wird. Unwillkürliche Aufmerksamkeit verweist somit auf eine im Wesentlichen durch Außenreize gelenkte Aufmerksamkeit. Und hierbei erscheint die im Prinzip mögliche Aufmerksamkeitsspanne beliebig dehnbar:
"Die meisten von uns haben überhaupt kein Problem damit, stundenlang eine Serie auf Netflix zu schauen oder ein spannendes Buch zu lesen, ohne dass dabei die Konzentration merklich abnimmt."
Gleiches gilt ja im Prinzip für Computerspiele, TikTok-Videos usw.
Willkürliche Aufmerksamkeit ist demgegenüber die Form von Aufmerksamkeit, die - wie eben schon beschrieben - Selbstbeherrschung einfordert und im schulischen Kontext zumeist bedeutsam ist, weil - ganz pauschal gesagt - eine Auseinandersetzung mit Anstrengung verbunden ist. Die beiden Unterformen “selektive Aufmerksamkeit” und “Daueraufmerksamkeit” sind dabei in besonderer Weise relevant. Selektive Aufmerksamkeit meint die Fokussierung auf aufgabenrelevante Reize bei gleichzeitiger Ausblendung konkurrierender irrelevanter Reize. Daueraufmerksamkeit ist die Fähigkeit, selektive Aufmerksamkeit über einen längeren Zeitraum unter Einsatz mentaler Anstrengung kontrolliert und bewusst aufrechtzuerhalten.
"Die hohe Bedeutung der Fähigkeiten zur selektiven Aufmerksamkeit und Daueraufmerksamkeit im Rahmen des schulischen Geschehens lässt sich an einer schulischen Alltagssituation leicht verdeutlichen. Während der Stillarbeit sitzt der Schüler an seinem Arbeitsplatz und soll eine Aufgabe bearbeiten. Der Wahrnehmungsfokus liegt dabei auf dem Aufgabenmaterial und den eigenen aufgabenbezogenen mentalen Prozessen. Gleichzeitig müssen konkurrierende Reize, wie z. B. der Sitznachbar, der gerade mit der Lehrerin eine Frage klärt, der auf dem Flur entstehende Lärm der Nachbarklasse, die Gedanken an den nachmittäglichen Kindergeburtstag usw., ausgeblendet werden (selektive Aufmerksamkeit). Für eine erfolgreiche Aufgabenbearbeitung muss dies über einen längeren Zeitraum geschehen bzw. die Aufmerksamkeit bei kleinen Ablenkungen auf die Aufgabe zurückgeholt werden und die Informationen müssen verarbeitet werden (Das ist Daueraufmerksamkeit.). " Und das gilt natürlich gleichermaßen zum Beispiel auch für Arbeiten in Gruppen, wobei insbesondere auch noch Herausforderungen, die sich durch Gruppenkonstellationen in Hinblick auf Aufmerksamkeit und produktives Arbeiten stellen, zu bedenken sind.

Sebastian  24:22

Die Zeitspanne, innerhalb derer Schülerinnen und Schüler, mit dauerhafter Aufmerksamkeit eine Aufgabe bearbeiten können, wird dabei oftmals mit folgenden Werten angegeben, die als Orientierungswerte zu verstehen sind:

  • Schüler:innen von 5 bis 7 Jahren können bis zu 15 Minuten eine Aufgabe konzentriert bearbeiten.
  • Bei Schüler:innen zwischen 7 und 10 Jahren liegt die Daueraufmerksamkeitsspanne bei bis zu 20 Minuten.
  • Im Alter von 10 bis 12 Jahren beträgt diese Zeitspanne bis zu 25 Minuten.
  • Und bei Schüler:innen zwischen 12 und 16 Jahren ist von etwa 30 Minuten Daueraufmerksamkeitsspanne auszugehen.
  • Die Fähigkeit, möglichen externen und internen Ablenkungen zu widerstehen, entwickelt sich dabei bis ins frühe Erwachsenenalter weiter.

Die genannten Zeitwerte - ich betone es noch einmal - sind dabei als Orientierungswerte zu verstehen, sie sind nicht “in Stein gemeißelt”, weil sie stark von verschiedenen internen und externen Variablen abhängig sind. Hierzu zählen zum Beispiel:

  • Umgebungsbedingungen wie z. B. konkurrierende Reize im Klassenraum;
  • körperliche Bedingungen wie z. B. Krankheit oder Müdigkeit;
  • kognitive Bedingungen wie z. B. Über- oder Unterforderung;
  • emotionale Bedingungen wie z. B. die aktuelle Befindlichkeit;
  • motivationale Bedingungen wie z. B. das Interesse am Thema sowie
  • soziale Bedingungen wie z. B. die Möglichkeit eines Lernens am Modell bei Peers oder Erwachsenen.

Die mit dem Lebensalter zunehmende Zeitspanne, innerhalb derer daueraufmerksam eine Aufgabe bearbeitet werden kann, hängt dabei mit Reifungsprozessen im Zentralen Nervensystem zusammen. Zugleich spielen aber auch Trainingsprozesse eine Rolle, weshalb Mietzel in seinem Lehrbuch zur Entwicklungspsychologie die Fähigkeit zur Kontrolle der Aufmerksamkeit als vordringliche Aufgabe im Schulalter ansieht. Es muss also im Verlauf der Zeit gelernt werden, die Aufmerksamkeit auf bestimmte, weil relevante Aspekte zu richten - und andere - irrelevante - zu ignorieren. Und Lehrer:innen können dabei ein wichtiges Rollenmodell für die Schüler:innen sein, wenn sie im Unterricht dauerhaft aufmerksam anwesend sind und nebenher nicht zum Beispiel WhatsApp-Nachrichten lesen bzw. schreiben, Tik-Tok-Videos schauen, Minecraft spielen usw. Und natürlich sind auch die Eltern und Erziehungsberechtigten wichtige Rollenmodelle für ihre Kinder, was die Nutzung digitaler Möglichkeiten angeht. Als Erwachsene führen Lehrer:innen sowie Eltern und Erziehungsberechtigte dabei gleichermaßen vor, was Erwachsensein im idealen Sinn bedeutet:
"Bestimmte Opfer hinzunehmen, auf übertriebene Ansprüche zu verzichten, zu lernen, daß es besser ist, “seine Wünsche als die Weltordnung zu besiegen”; die Entdeckung, daß Hindernisse nicht die Leugnung, sondern die Bedingung der Freiheit sind und daß diese, wenn sie nicht auf Widerstand stößt, nur ein Phantom ist, eine eitle Laune, daß Freiheit nur existieren kann, wenn alle sie genießen, wie es ja auch im Gesetz verankert ist. Erwachsensein bedeutet anzuerkennen, daß man sich selbst nie ganz gehört, daß man in gewisser Weise auch den anderen verpflichtet ist, die unseren Anspruch auf Hegemonie erschüttern. Es bedeutet schließlich, daß man sich durch Veränderung weiterentwickeln muß, daß man sich immer in der Auseinandersetzung mit sich selbst weiterentwickelt, gegen das Kind, das man gewesen ist, und daß in dieser Hinsicht alle Erziehung, und sei sie noch so tolerant, eine Bürde ist, die man sich auferlegt, um sich den Wünschen des Augenblicks und der Ignoranz zu entziehen."

In Fortführung dieses Zitates stellt Bruckner das Erwachsensein dann einer zunehmend um sich greifenden Haltung gegenüber, die er als infantilen Individualismus bezeichnet und die er als Einstellung charakterisiert, die davon ausgeht, dass man auf das Verzichten verzichten kann, was Bruckner als Utopie herausstellt.

Eine Verbindung zur eingangs zitierten Studie zur veränderten Häufigkeit der Behandlung von Kindern in Notaufnahmen stellen wir jetzt bewusst nicht her. Stattdessen wollen wir in diesem Zusammenhang nicht unerwähnt lassen, dass - zum Glück! - nicht jede Lebenssituation auch eine Lern- bzw. Arbeitssituation ist, die in hohem Maße eine konzentrierte Auseinandersetzung erforderlich macht. Und überall dort, wo das nicht erforderlich ist, ist es dann auch nicht erforderlich - und so möchten wir diese Podcast-Folge auch verstanden wissen: es geht hier nicht um Überlegungen, die für jede Lebenssituation Gültigkeit beanspruchen. Jedoch wäre es günstig, wenn wir jungen Menschen diese Differenz auch vor Augen führen und deutlich machen: Wenn Lernen angesagt ist, dann ist das Einhalten bestimmter Rahmenbedingungen hilfreich, um erfolgreich zu sein. Aber diese Rahmenbedingungen gelten natürlich nicht, wenn Ihr Euch nachmittags mit Euren Freudinnen und Freunden trefft usw. Und ein letzter Aspekt in diesem Zusammenhang, der mir wichtig ist: Die digitalen Medien ermöglichen es ja inzwischen, dass Lehrer:innen ihre Schüler:innen zum Beispiel per E-Mail zu jeder Zeit erreichen können und so zum Beispiel abends noch zusätzliche Aufgaben zur nächsten Stunde stellen können. Das halte ich für höchst problematisch. Wenn ich als Schüler abends mit meinen Freundinnen und Freunden Zeit verbringe, dann möchte ich kein Arbeitsblatt mit noch zu bearbeitenden Aufgaben erhalten. Dann befinde ich mich - verdientermaßen - im Modus “Freizeit” und nicht im Modus “Schule und Lernen” bzw. anders ausgedrückt: Schule sollte es unterlassen, in deutlicher Weise in die freie Zeit der Schüler:innen hineinzudrängen, schließlich ist die zeitliche Begrenztheit von Schule auf verschiedenen Ebenen wie beispielsweise der Ebene der täglichen Unterrichts- und Hausaufgabenzeit schon immer ein wesentliches Charakteristikum des Schulwesens. Und auf der anderen Seite sollte aber auch gelten, dass Schüler:innen während der Schulzeit nicht in einem dauerhaften Austausch mit ihren Eltern bzw. Erziehungsberechtigten über verschiedenste digitale Kanäle stehen.

Sebastian  29:51

Die Bedeutung von ausreichend langen und echten Pausen nach Phasen konzentrierter Auseinandersetzung, die uns viel stets Energie abverlangen, sei an dieser Stelle nur kurz hervorgehoben. Pausen können unter anderem dazu beitragen, dass wir uns mit einem Sachverhalt noch einmal neu und aus einer anderen Perspektive auseinandersetzen. Dabei ist es wichtig zu verstehen, dass es keine naturgegebenen Aufmerksamkeitsverläufe der Schüler:innen für einen Stundenverlauf gibt, sondern dass der Grad der Aufmerksamkeit im Stundenverlauf von vielen Faktoren abhängt, so u. a. auch von den im Stundenverlauf möglichen Pausen. Diese Pausen können dabei die Form von technology breaks oder tech breaks haben, die Van der Stigchel vorschlägt:
"Allein die Gewissheit, dass Sie bald die Möglichkeit haben werden, Ihre Nachrichten zu überprüfen - und nicht Gefahr laufen, einen wichtigen Teil des Unterrichts zu verpassen (...) kann Ihnen die nötige Ruhe verschaffen, um konzentriert arbeiten zu können. So können Sie sich von der digitalen Welt abkapseln und Ihre ganze Aufmerksamkeit auf die physische Welt um Sie herum richten. Ein zusätzlicher Vorteil eines tech breaks ist, dass er Ihnen helfen kann, für den weiteren Tag Kraft zu schöpfen - ähnlich wie eine Kaffeepause. Für viele Menschen gibt es nichts Schöneres, als sich einen Moment oder zwei zu entspannen und durch ihre Timeline auf Twitter oder Facebook zu scrollen."
Und in diesen technology breaks könnten dann natürlich auch WhatsApp-Nachrichten gelesen werden, oder was auch immer die Schüler:innen als wirkliche Pause erleben; gleichzeitig gilt es aber, diese Pausen so kurz wie möglich zu halten, was durchaus eine Herausforderung darstellt, schließlich sind Apps aus kommerziellen Gründe ja oftmals gerade so programmiert, dass sie die unwillkürliche Aufmerksamkeit lange halten. Und selbstverständlich darf eine Schülerin bzw. ein Schüler in einer technology break auch mit seiner Sitznachbarin oder seinem Sitznachbarn reden oder ein wenig gedankenverloren vor sich hin träumen.
Eine Notwendigkeit zur Nutzung digitaler Möglichkeiten in Pausen nach Phasen konzentrierter Arbeit ist also keineswegs gegeben. Und wenn wir ein wenig über den Schulkontext hinausschauen, dann finden wir die Empfehlung, kurze Spaziergänge in der Natur zu unternehmen, um im Anschluss wieder konzentriert weiter arbeiten zu können.
Über zwei Aspekte müssten wir im Zuge unserer Auseinandersetzung mit dem Konzept der Aufmerksamkeit jetzt aber noch kurz sprechen, und zwar über Musik und über Routinen. Fangen wir mit Musik an.

Stefan  32:19

Music was my first love
And it will be my last
Music of the future
And music of the past

Sebastian  32: 26

Auch schön. Aber eigentlich wollte ich auf die Frage hinaus, wie es zu bewerten ist, wenn man beim Lernen Musik hört.

Stefan 32:32

Da würde ich sagen: It depends.

Sebastian  32:35

Inwiefern?

Stefan 32:36

Nun ja, solange ich die Musik ausblenden kann, solange ich nicht wirklich zuhöre, also meine Aufmerksamkeit der Musik widme, ist sie kein Problem. Und daraus folgt, wenn ich beim Lernen Musik hören möchte, muss ich die Musik geschickt auswählen:
"Wenn Sie also Musik hören möchten, während Sie lernen, dann wählen sie Musikstücke aus, in denen keine Wörter vorkommen, oder wenn Wörter vorkommen, dann sind sie hoffentlich in einer Sprache, die Sie überhaupt nicht verstehen, denn ansonsten lenkt sie die Musik zu sehr von dem ab, das Sie zu lernen versuchen."
Entsprechend ausgewählte Musik kann daneben dazu beitragen, in kurzen Pausen nach Phasen konzentrierter Arbeit die erforderliche Konzentration wieder herzustellen.
"Unsere Konzentration lässt im Lauf der Zeit nach, besonders wenn wir sehr komplizierte oder sehr langweilige Tätigkeiten ausführen. (…) Und wenn die Konzentration nachlässt, können Sie einfach mal kurz aufhören zu arbeiten und sich an der Musik erfreuen, die Ihnen hilft, Ihre Konzentration wieder aufzubauen."
Zugleich kann Hintergrundmusik aber auch dazu beitragen, Hintergrundgeräusche abzuschirmen, sodass man dann weniger leicht von überraschend auftretenden Geräuschen abgelenkt wird.

Sebastian  33:40

Wie geht man mit diesen Befunden nun um, wenn z. B. die Möglichkeit besteht, dass Schüler:innen im Unterricht bei Einzelarbeiten über Kopfhörer Musik hören? Ich würde denken, dass man hier situationsabhängig entscheiden sollte, aber mit der Maßgabe, im Zweifelsfall eher auf das Musikhören zu verzichten. Schließlich ist die Herstellung der Bedingungen, unter denen das Hören von Musik in Hinblick auf den Lernprozess irrelevant ist, durchaus herausfordernd. Und in erforderlichen Pausen lässt sich - wie schon dargelegt - auch auf andere Weise - aber natürlich auch durch das Hören von Musik - die notwendige Konzentration wieder herstellen. Dass Schüler:innen dabei wohl Musikhören beim Lernen subjektiv als angenehmer und lernwirksamer empfingen empfinden, so wie es auch aus Studien zum Fernsehschauen beim Lernen bekannt ist, wo neben akustischen dann auch noch visuelle Informationen eine Rolle spielen, wollen wir hier nicht unerwähnt lassen. Solche Befunde machen aber vor allem auch deutlich, dass wir uns hinsichtlich der Frage, wie sich Lernen effizient gestalten lässt, auf Basis eigener Erfahrung durchaus irren können.
Nun könnte man einwenden, dass beim Lernen im Klassenraum natürlich auch Hintergrundgeräusche eine Rolle spielen, die zu ignorieren sind, um effektiv lernen zu können. Und hinsichtlich dieses Punktes würden wir argumentieren, dass dieses Ignorieren bzw. das Konzentrieren auf die anstehenden Aufgaben ja gerade etwas ist, das im Laufe der Schulzeit gelernt werden muss und - im Sinne der Autoren der COACTIV-Studie - auch als etwas aufgefasst werden kann, das Teil des Programms von Schule ist. Zudem sollte nicht übersehen werden, dass ein Wechsel zum Musikhören im Zweifelsfall auch erst einmal mit switch costs verbunden sein kann, u. a. wenn die Musik erst einmal ausgewählt werden muss.
Und sagen wir jetzt noch etwas zum Thema “Kindergehörschutz”, also Kopfhörern, die Umgebungsgeräusche reduzieren?

Stefan  35:34

Ja, aber nur ganz kurz. Das ist ja ein zweischneidiges Schwert. Auf der einen Seite erlauben solche Kopfhörer sicherlich, dass Schüler:innen konzentrierter arbeiten können, weil ablenkende Geräusche reduziert werden. Auf der anderen Seite erlauben sie aber gerade nicht, dass die Fähigkeit erworben wird, irrelevante Reize zu ignorieren. Sie sind also in Hinblick auf die Förderung selektiver Aufmerksamkeit bzw. von Daueraufmerksamkeit wenig hilfreich. Hierzu ein vielleicht nur in Teilen passender Vergleich: Es ist sicherlich gut gemeint, wenn Eltern ihre Kinder im Auto zur Schule bringen, können sie so doch zumeist gewiss sein, dass die Kinder unbeschadet und begleitet an der Schule ankommen. Gleichzeitig lernen die Kinder so aber zum Beispiel nicht, relevante Reizsituationen zu identifizieren, die ein sicheres Überschreiten der Straße signalisieren und z. B. ablenkenden Reizen zu widerstehen. Dies ist ein Grund dafür, warum sich nicht nur der ADAC auch immer wieder gegen die sogenannten Elterntaxis ausspricht. Für Elterntaxis gilt dabei wohl das gleiche wie für Kindergehörschutz im Unterricht: So selten wie möglich!
Dann bleibt uns jetzt nur noch ein abschließender Blick auf das Thema “Routinen”. Van der Stigchel schreibt hierzu:
"Wenn eine Person dazu in der Lage ist, eine Aufgabe automatisiert auszuführen, dann muss sie für die Erledigung dieser Aufgabe keine wirkliche Aufmerksamkeit aufbringen und sie kann sich stattdessen auf andere Aufgaben konzentrieren.
Und im “Dorsch - Lexikon der Psychologie” wird herausgestellt:
"Sog. Multitasking (gleichzeitiges Verarbeiten unterschiedlicher Informationen) ist nur bei automatisierten Handlungen möglich, ansonsten muss man möglichst schnell zw. zwei oder mehr Handlungsabläufen wechseln."
Und diese Wechsel sind, wie wir nun mehrfach herausgestellt haben, mit switch costs verbunden. Den Sachverhalt, dass Multitasking bei automatisierten Handlungen grundsätzlich möglich ist, kennen wir dabei alle sicherlich vom Autofahren.
"Ein sicheres Ankommen am Arbeitsplatz ist auch dann möglich, wenn Sie während der Fahrt nicht die ganze Zeit mit den Gedanken beim Fahren sind, da Sie jeden Tag die gleiche Strecke zurücklegen."
Gleichwohl ist ein Wechsel vom “Autopilot-” in einen konzentrierten Fahrmodus erforderlich, wenn überraschende Ereignisse eintreten - beispielsweise wenn ein Reh vor dem Auto auf die Straße springt oder ein Hindernis besonderes Fahrgeschick erforderlich macht. Dann muss in Sekundenbruchteilen der Aufgabe “Autofahren” wieder die volle Aufmerksamkeit geschenkt werden, was beim Wechsel von mehr oder weniger gedankenverlorenem Träumen oder Gesprächen im Auto eher möglich ist, als in Situationen, in denen man sich dem Handy zugewendet hat.
Welche Bedeutung haben nun Routinen für schulisches Lernen?

Sebastian  38:04

Nun ja, sie können, wenn sie sich auf Arbeitsabläufe beziehen, dazu verhelfen, dass der Fokus auf der Sachauseinandersetzung liegt bzw. bei der Sachauseinandersetzung bleibt und somit keine switch costs auftreten. Ein Beispiel wäre hier der Wechsel von einer zentralen in eine dezentrale Einzelarbeitsunterrichtsphase. Wenn Schüler:innen hier automatisiert erforderliche Materialien herausnehmen und sich bereitlegen, kann die sachliche Auseinandersetzung quasi in einem Zug weitergehen. Zu switch costs kommt es hingegen, wenn an dieser Stelle zum Beispiel erst einmal überlegt werden muss, was überhaupt benötigt wird und wo es sich in der Schultasche oder im Klassenraum befindet bzw. wenn in der Klasse nach fehlenden Materialien gefragt wird. Und natürlich muss Schule den Erwerb derartiger Routinen unterstützen, wobei man als Lehrer:in klug beraten ist, nicht beliebig viele Muster einzuüben, um unterrichtliche Vorgehensweisen zu stabilisieren. Und gerade dann, wenn es um das Einüben von Routinen geht, also diese noch explizit thematisiert werden, erscheint es - um inhaltliche Anschlussfähigkeit herzustellen und eine Interferenz zwischen dem Erlernen der Routinen und dem Inhalt zu vermeiden - hilfreich, sich die Fragen der Person am Empfang noch einmal in Erinnerung zu rufen, bevor die inhaltliche Auseinandersetzung fortgeführt wird: Was haben wir gerade gemacht? Wo waren wir stehengeblieben? Was wollen wir als Nächstes tun?

Nun erleben wir derzeit, dass Schüler:innen an weiterführenden Schulen ab bestimmten Klassenstufen zunehmend auch Tablets als Unterrichtsmaterialien mit dabei haben müssen, damit diese für verschiedene Zwecke im Unterricht genutzt werden können. Die weiterführenden Schulen stehen hierbei insbesondere auch vor der Herausforderung, notwendige Routinen im Umgang mit diesen Tablets zu etablieren und im Sinne von Routinebildung einzuüben. Natürlich sind verschiedene Apps hinsichtlich ihrer Bedienung oftmals recht intuitiv - das ist ja ein wesentliches Selektionskriterium bei Apps, das aber oftmals fälschlicherweise mit digitaler Kompetenz verwechselt wird. Wenn ich aber beispielsweise an eine App denke, mit der ich eine digitale Mappe führen kann und die dauerhaft geführt werden soll, sind gleichwohl Routinen der App-Nutzung zu erlernen, sodass das Führen der digitalen Mappe dann - im besten Fall - ähnlich routiniert abläuft wie das Führen einer analogen Mappe laufen sollte. Dieses Erlernen der Handhabung erfordert aber eben auch Zeit und ist mit Produktivitätsverlusten verbunden. Wie bereits ausgeführt, tut Schule gut daran, wenn sie versucht, auch hier die Anzahl einzuübender Routinen überschaubar zu halten.
Im Übrigen ist ja nicht für die Nutzung jeder App eine solche Routine aufzubauen. Gerade dann, wenn eine App nur einmalig im Unterricht genutzt wird, erscheint es sinnvoll - im Sinne eines Einschubs - relevante Aspekte der Bedienung, sofern sie nicht hirnreichend intuitiv ist, zu besprechen und für die weitergehende inhaltliche Auseinandersetzung dann den Schüler:innen die wesentlichen Punkte der Nutzung verfügbar zu machen. Supportive information heißt das Ganze mit Fachbegriff und van Merriënboer und Kirschner geben hierzu ja genau die gerade erläuterte Empfehlung. Vor dem Wechsel von den Fragen der App-Bedienung zur weitergehenden inhaltlichen Auseinandersetzung dürften dann aber wieder die folgenden Fragen relevant werden: Was haben wir gerade gemacht? Wo waren wir stehengeblieben? Was wollen wir als Nächstes tun?

Stefan 41:33

Und diese Frage “Was wollen wir als Nächstes tun?” greife ich direkt einmal auf, um einen Ausblick auf unsere nächste Podcast-Folge zu geben, in der wir uns noch weiter dem Aspekt “Aufmerksamkeit” widmen wollen. Während wir in dieser Folge erste grundlegende Einordnungen vorgenommen haben, wollen wir beim nächsten Mal zum einen das Thema aus didaktischer Perspektive noch etwas genauer beleuchten. Und wir werden der Frage nachgehen, was am mitunter zu hörenden Vorwurf dran ist, dass (nicht nur) junge Menschen heute kaum mehr längerfristig konzentriert einer Sache nachgehen können.

Sebastian  42:01

Für heute soll es das aber gewesen sein. Wir verabschieden uns. Bis zum nächsten Mal.

Outro  42:08